Erst nachdem man sich mit dem Thema Kindermissbrauch auseinandergesetzt hat, wird man sich der wahren Ausmaße dieses abscheulichsten aller Verbrechen bewusst und fühlt sich einer schwarzen, bodenlosen Ohnmacht nahe.
16.354 Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs registrierte die Polizei im Jahr 2024. Der überwiegende Teil der 12.368 Tatverdächtigen sind männlich (11.690 tatverdächtige Männer und 678 tatverdächtige Frauen). Registriert werden nicht nur erwachsene Täterinnen und Täter, auch Minderjährige können sexuelle Gewalt ausüben. Im Jahr 2024 wurden 3.686 männliche Tatverdächtige und 243 weibliche Tatverdächtige unter 18 Jahren erfasst.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2024, Bundeskriminalamt
Wie viele Kinder sind es heute, die unter Gewalt leiden, die in dieser Minute um Hilfe rufen und keine bekommen, die erst gar nicht gehört werden! Wie viele waren es damals, zu meiner Zeit?
…
Wie viele der heute Erwachsenen schweigen darüber, was sie vor Jahren ertragen mussten! Oft bleibt die Erinnerung daran lange in der Tiefe ihres Unterbewusstseins verborgen. Doch früher oder
später sucht sie sich unweigerlich den Weg nach „oben“; mit der schockierenden, neuen Erkenntnis dann umzugehen, damit weiterzuleben und vor allem darüber zu reden, scheint anfangs nahezu
unmöglich. Sie schweigen aus Scham, aus Angst vor der Reaktion der Angehörigen, oder weil sie sogar sich selbst die Schuld geben; sie versuchen, alles wieder zu verdrängen.
Ich erinnere mich nur zu gut, wie es mir erging, als die Ahnung in mir aufkam, als ich in einer Schreckensstunde begriff, was mir in meiner Kindheit widerfahren war. Ich konnte es nicht fassen, mein Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren. Doch das kleine Mädchen in mir wusste es besser. Es flehte mich an, ihm zuzuhören, seine Pein nachzufühlen, es in Schutz zu nehmen. Viel zu spät, dachte ich damals – viel zu spät! Ich dachte, dass es ohnehin keinen Sinn mehr hätte – das Geschehene war nicht mehr rückgängig zu machen, es gab nicht einmal die Möglichkeit, den Täter damit zu konfrontieren, denn er war nicht mehr am Leben. Also beschloss ich, das Ganze für mich zu behalten – niemand sollte davon erfahren. Zu groß war meine Scham. Dass es die Scham eines Kindes gewesen war, verstand ich erst später. Und mit diesem Verstehen kam der Zorn: Nein, SO NICHT! Du bist erwachsen, du kannst die kleine Rosa, die sich nach fast fünfzig Jahren endlich zu Wort meldet, nicht wieder zum Schweigen bringen. Sie will gehört werden – vielleicht sogar von der ganzen Welt, aber zuallererst von dir selbst. Nur du kannst dich ihrer annehmen, ihren Schmerz spüren, ihre Scham verstehen und sie schließlich überwinden.
Denn wenn du schweigst, wenn wir schweigen, wie erfährt die Welt von den Gräueltaten? Wer bestraft die Verbrecher? Wer setzt sich für die Kinder ein – für diejenigen, die sie einmal waren, diejenigen, die sie jetzt sind und die noch geboren werden? Wenn wir schweigen, dann verraten wir die Kinder in uns, ihre Würde, ihre Tapferkeit, mit der sie es geschafft haben, das Unfassbare zu überstehen und zu überleben, dann lassen wir sie im Stich … zum wiederholten Mal im Stich.
Nein, ich wollte und konnte nicht weiter schweigen. Deshalb schrieb ich offen darüber in meinem Buch, allem Widerstand und Unmut einiger meiner Verwandten zum Trotz.
Es war, ist und bleibt mein ganz persönlicher und einzig richtiger Weg.
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Myriade (Montag, 16 Juni 2025 21:07)
Mutig ist sie deine Kleine. Schreien soll sie können und lachen und mit dir gemeinsam durch die Welt und das Leben spazieren ...