Wintergedanken


 Der Winter meiner Kindheit. Ich bin zehn Jahre alt. Neuschnee bildet eine riesige weiße Tafel im Garten. Das bringt eine Menge Spaß für mich: ich kann etwas zeichnen oder mit einem Stock einfach schreiben „Rosa + X = Liebe“ und nach ausgiebigem Liebäugeln alles wieder wegwischen. Oder ein verworrenes Labyrinth aus eigener Spur bilden und am Ende den Weg zum Anfangspunkt wiederfinden – nicht immer ist das so einfach, wie es zuerst scheint.

Es gibt auch noch viele andere spannende Sachen, die ich im Winter machen kann. Zum Beispiel, mit dem Schlitten vom hohen Schneehügel hinunterfliegen, sodass der Wind um die Ohren pfeift. Oder eine Höhle im Berg aus festgesetztem Schnee ausgraben, um sich darin vor aller Welt zu verstecken.

Der Winter meiner acht – elf Jahre war voll Freude und Vergnügen, jedenfalls ist er so in meiner Erinnerung geblieben.

Den Winter der späteren Jahre verbinde ich schon mit anderen Gefühlen. Das Teenager-Alter ist wohl das Schwierigste im Menschenleben. Mit 14 ist es nicht leicht, mit quälenden Gedanken, mit einer Sehnsucht nach irgendetwas, wovon man gar nicht weiß, was es ist, zurechtzukommen. Dazu noch die schwere langwierige Krankheit meiner Mutter. Sie starb, als ich 17 war. Deshalb ist der Winter meiner Jugend mehr ein Kampf mit mir selbst, mit meinen Problemen, mit der inneren Unruhe gewesen. Aber seine Farbe bleibt immer noch weiß und frisch. Mein Lieblingswetter in diesen Jahren war der Schneesturm, vielleicht weil er so gut zu meinem Seelenzustand passte. Ich liebte es, mittendrin zu sein; er gab mir etwas von seiner Kraft ab und ich glaubte wieder, dass es in dieser freudenleeren Welt doch ein wenig Glück für mich gibt.

Ich bin 30. Es ist wieder Winter, schon wieder der verhasste Winter! Der graue, schmutzige Schnee, der überall herumliegt, das Glatteis, das immer so gefährlich ist, der Frost, den es so häufig gibt, das ständige Gefühl der Kälte, des Frierens … In der Wohnung ist es kalt, und morgens muss man sich zum Aufstehen einfach zwingen. Der Gedanke, dass es am Arbeitsplatz noch kälter ist, macht das Ganze noch unangenehmer. Außerdem steht mir noch der Weg zur Arbeit bevor, den ich durchhalten muss. Das heißt – ein langes Warten an der Bushaltestelle, oft bei -30°, eine Fahrt im Bus, der zum Brechen voll ist, eine Gefahr, beim Anhalten aus dem Bus herausgestoßen zu werden … Wo ist der Winter meiner Kindheit, der weiße blitzsaubere Schnee, die frostige belebende Frische? Wo sind meine seltsamen, verrückten Gedanken? Kann man sich so verändern? Ist in dieser sorgenvollen Frau nichts mehr von dem Mädchen der 60er Jahre geblieben?

Heute ist es wieder Winter. Winter in einem ganz anderen Land, in einem Land, das zu meiner zweiten Heimat geworden ist. Ich mag den Schnee und die Kälte immer noch nicht, obwohl die meiste Winterzeit hier sowieso schneelos und grau ist. Aber manchmal träume ich von einer anderen - vertrauten - Kälte, von glitzernden, leichten Schneeflocken, vom Schneesturm. Ich sehe ein Mädchen, das im frischen Schnee herumtollt, und ich weiß, das Mädchen – das bin ich. Und der Winter, in dem es gelebt und gefühlt hat - das ist mein Winter. Er ist immer noch in mir, mit mir und jetzigem Winter fest verbunden – Schnee mit Regen, Weiß mit Grün, Frost mit Frische. Und Gedanken mit Gedanken. Anders kann es auch nicht sein.

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Enya Kummer (Mittwoch, 24 Januar 2018 15:46)

    Obwohl es mich ein wenig traurig stimmt, was du schreibst: Bewahre dir die Erinerung an die kleine Rosa, die im Schnee tollen durfte, erlebe die Gefühle und das Leben. Immer wieder.
    Liebe Grüße
    Enya