Gefangen


Es hat mich wieder überfallen. Das Allerschlimmste hält meine Seele und meinen Verstand in seiner Gewalt. Es herrscht nicht nur in mir, sein Schatten wird immer größer und verbreitet sich überall. Ich kann ihm nirgendwo entkommen, weder in einer Menschenmenge noch in der Einsamkeit. Auch im Schlaf verfolgt es mich, drängt in meine Träume ein und durchtränkt sie mit dickflüssigem, qualvollem Seelenschmerz, der bis in den neuen Tag hineinreicht. Und der Albtraum geht weiter. Ein Albtraum, der zu meiner Wirklichkeit geworden ist.

Ich suche irgendetwas in meinem Herzen, das die Kraft hätte, mich wiederzuerwecken, vielleicht eine winzige Freude, eine schöne Erinnerung, einen kleinen Wunsch, finde aber nichts, woran ich mich halten kann. Das Leben ist völlig sinnlos geworden. Ich kann es nicht mehr ertragen, aber es zieht sich unendlich hin. Und diese Gewissheit – ich werde weiter, ich werde ewig so leben müssen, jagt mir eine höllische Panik ein, die sich heiß und schwer in meinem Nacken festkrallt.

Verzweifelt versuche ich, mir einen Trost aufzubauen, rede mir ein, dass ich aus dieser Ewigkeit doch noch herausfinden kann. Es kostet mich ja bloß einen Schritt, einen kleinen, einfachen Schritt! Aber dieser gelingt mir nicht, denn der Tod scheint mir auf einmal genauso entsetzlich wie mein Dasein.

Mit erschütternder Klarheit erkenne ich – es gibt keinen Ausweg. Ich bin gefangen. Gefangen in diesem unendlichen, unerträglichen Augenblick zwischen Leben und Tod, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gefangen in mir selbst.

Ein unbezwingbares Bedürfnis, die Flucht vor mir selbst zu ergreifen, treibt mich von einer Ecke in die andere. Gefangen!

Mit letzten Kräften sammle ich die wenigen, noch erhaltenen, zerstreuten Brocken meiner Vernunft und atme tief eine Erleichterung ein, die sich sofort mit einem Schimmer von Hoffnung verbindet: Es ist alles nicht so schlimm! Sieh mal, die Sonne scheint! Die Welt ist so schön und du kannst noch so viel Freude haben! Du bist doch nicht allein! Es wird alles wieder gut.

Eine nächste heiße, panische Welle steigt in mir hoch und schwemmt auch diese kaum entstandene, dünne Hoffnung wieder fort. Ich weiß, es war bloß eine kurze Illusion, eine Lüge. Und ich weiß – die düstere Ewigkeit steht mir bevor.

Wie an einen Strohhalm klammere ich mich an den Telefonhörer. Ich muss mit jemandem reden, eine menschliche, vernünftige, klare Stimme hören. Eine Stimme, die vielleicht imstande ist, meine Panik ein wenig zurückzudrängen …

Ich wähle die Nummer meiner Freundin. Aber auf den Signalton am anderen Ende der Leitung reagiert keiner. Niemand hört mich. Mein Schicksal grinst mich aus den schwarzen Telefontasten grässlich und höhnisch an. Stumm und wie gelähmt schaue ich ihm entgegen …

 

1995

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