Wir stehen uns gegenüber und mustern einander – kritisch, aber auch mit Interesse. Etwas fesselt mich an dieser Frau, die ich jeden Morgen vor mir sehe. Heute kommt sie mir fremd vor, obwohl ich doch diejenige bin, die sie am besten kennen müsste.
Wie so viele Menschen mit Sehschwäche, muss sie eine Brille tragen und obgleich sie bereits eine neue besitzt, bringt sie es nicht übers Herz, die alte Brille aus vergangenen Zeiten zu entsorgen. Sie holt sie manchmal aus der Schublade heraus und setzt sie für eine Weile auf.
Diese Brille hat etwas Magisches an sich. Die unscharfen Gläser, die schon mehrere Kratzer aufweisen, machen die Umgebung verschwommen und verändern auf bizarre Weise die Wahrnehmung.
Plötzlich ist sie wieder in ihr altes Ich versetzt, in die Frau, deren Leben vor ein paar Jahren noch ganz anders verlief. Sie fühlt sich wieder so wie damals – deprimiert, unsicher und verloren. Die Erinnerungen überfluten sie, werden unangenehm und sie setzt die alte Brille rasch ab.
Nein, sie ist nicht mehr der Mensch, der sie früher war. Sie hat sich verändert – sowohl äußerlich als auch innerlich, obwohl es ihr manchmal schwerfällt, einige ihrer neuen Eigenschaften anzunehmen, so ungewöhnlich sind sie.
Oder ist sie schon immer so gewesen, so geboren worden und ahnte nichts davon? Wahrscheinlich war vieles in ihr einfach verschüttet und zugemauert und nun drängen ihre tief vergrabenen Neigungen und Gefühle unaufhaltsam ins Leben. Sie brauchen Licht, sie brauchen Luft und nichts kann sie mehr auf dem Weg in die Freiheit stoppen.
Am Anfang versuchte die Frau noch, sich dagegen zu wehren, aber als ihr klar wurde, dass sie eigentlich ohne Erfolg kämpfte, gab sie den Widerstand auf und nahm sich selbst an.
Oft frage ich mich, wenn ich sie wie heute betrachte, wie konnte das überhaupt passieren?
Warum brach ihr inneres Gefängnis erst jetzt auseinander?
Woher kam der Sprengstoff?
Welcher Impuls war nötig?
Es ist nicht einfach, darauf zu antworten. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto besser verstehe ich das Ganze.
Was weiß ich noch über diese Fremde, die mir gleichzeitig so vertraut, so nah ist?
Sie hat einen kurzen Vornamen, den man manchmal auch noch in Deutschland antrifft, den sie selbst aber schon als Kind nicht mochte, und einen ziemlich langen ausländischen Familiennamen. Wenn jemand ihn sofort richtig und ohne Stottern ausspricht, ist es fast wie ein Wunder und darüber freut sie sich.
Ist sie eine Deutsche?
Die Antwort scheint mir auf einmal gar nicht so leicht. Sie antwortet mir darauf auch nicht, schaut mich nur verschmitzt an. Ich weiß, dass sie mit Absicht kein einziges Wort sagt – sie möchte nicht, dass ich an ihrem Akzent erkenne, aus welchem Land sie kommt.
Das bringt mich zum Lachen und sofort gibt sie mir mein Lachen zurück, dabei verändert sich ihr Gesicht, als ob sie um Jahre jünger geworden sei – jünger und unbesorgter.
Dann wird sie wieder ernst.
Meine Frage nach der Nationalität bleibt immer noch ohne Antwort.
Wie ich sie einschätze, gehört sie nicht zu denen, die leicht nach einem passenden Wort greifen. Sie ist zurückhaltend, sogar etwas schüchtern, besonders in einer größeren oder wenig bekannten Gesellschaft.
„Mein Reden ist mein Schreiben“, scherzt sie manchmal. In gewisser Weise stimmt das. Ihre Texte sind viel offener und persönlicher, als sie es selbst im Gespräch ist.
Ob sie das richtig macht?
Darin bin ich mir nicht sicher. Aber das muss sie entscheiden. Wahrscheinlich kann sie sich nicht anders geben, weiß aber wohl, was sie tut und warum.
Sie ist keine erfahrene Schriftstellerin. Sie schreibt (genauer gesagt, versucht es) erst seit wenigen Jahren und das Überraschende – sie schreibt in Deutsch, obwohl sie vorher in dieser Sprache nie etwas verfasst und kaum gesprochen hat.
Sie meint, dass sie die alte Fähigkeit wiedergefunden habe, die ihren Geist befreit und ihr Leben erfüllt – die Fähigkeit, Gedanken und Empfindungen schriftlich zu äußern, sodass die zu Papier gebrachten Wörter und Sätze sich wie ein Puzzle zusammenfügen, wie eine Melodie klingen, die Sinne ansprechen, Wichtiges vermitteln und Schönes wie Trauriges weitergeben.
Was noch erstaunlicher ist – in Deutsch zu schreiben gelingt ihr am besten und bereitet ihr viel Freude, obschon sie häufig mit sich selbst unzufrieden ist und glaubt, das Schriftdeutsch nie so beherrschen zu können, wie sie gern möchte. Wie oft fehlen ihr die Worte, wie oft verliert sie den Mut … und findet ihn doch stets wieder!
Trotz alledem bin ich überzeugt – in diesen wenigen Jahren hat die Frau einen enormen Fortschritt gemacht und das nicht nur im Schreiben.
Sie ist eine Deutsche – ohne Zweifel! Warum sonst fühlt sie sich in Deutschland so, als sei es schon immer ihr Zuhause gewesen, ihre neu entdeckte Heimat, auch wenn die Verbundenheit mit einem anderen Land und dessen Menschen, zu denen einst auch sie gehörte, nie abreißen wird?
Warum sonst hat sie jetzt diese seltsamen Gedanken? Warum sonst schreibe ich für sie diese Zeilen?
Warum frage ich mich immer wieder, wer diese mir gegenüberstehende Frau ist?
Bin ich das oder ist sie mein Spiegelbild?
Herbst 1995 - Juli 2011