Nicht im Krieg, nicht in der Dürrezeit ...

(aus dem Russischen)


Спасибо любимому Сталину за счастливое детство!

Winter 1932-1933 in Rostow am Don. Ich bin sieben Jahre alt. Immer öfter höre ich das Wort Hunger. Es gibt auch andere neue Wörter: Essensmarke, Bons, Torgsin*. Torgsin ist für mich so etwas wie ein Märchen, ein Schlaraffenland. Mama bringt ihren Ring und ein paar silberne Löffel dorthin. Ich stehe am Schaufenster und sehe Würstchen, schwarzen Kaviar, Süßigkeiten, Schokolade, Törtchen. Ich verlange nicht danach – verstehe ich doch sehr gut, dass meine Mutter das nicht kaufen kann. Aber ich bekomme etwas Reis und ein Stückchen Butter.

Nein, ich, das einzige und ständig kränkelnde Kind, hungere nicht. Ich will sogar Mamalyga [aus Maisgrieß hergestellter Brei] nicht essen, der so schön, wie Pudding aussieht, aber ekelhaft schmeckt. Ebenso hasse ich Graupenbrei und es wundert mich, wie gierig ihn Lönjka isst – ein Junge, der in der Wohnung über uns lebt und manchmal zu mir kommt, um zu spielen. Er ist freundlich, aber still und ängstlich. Einige Zeit später erfahre ich, dass Lönjkas Großvater gestorben ist, und die Erwachsenen sagen, es gibt keinen Sarg, um ihn zu begraben. Das erschüttert mich und ich denke: „Dann wird der tote Großvater für immer in der Wohnung liegen bleiben?“ Ich würde Lönjka gern danach fragen, aber er kommt nicht mehr zu uns. Dann erfahre ich, dass der Großvater in einer Kiste aus zusammengenagelten alten Brettern doch noch begraben wurde. Aber Lönjka kommt nicht. Erst viel später wird mir gesagt, dass auch er gestorben sei. Sie waren sehr ruhige und bescheidene Menschen – Lönjkas Familie – und hungerten im Stillen. Die Schwächsten – der Älteste und der Jüngste – haben nicht überlebt.

Anfang 1930 hatte meine Mutter an einem Kurs teilgenommen, in dem Krankenschwester ausgebildet wurden. Sie absolvierte ihn mit Bravour und arbeitete danach in der Gynäkologie-Abteilung des Proletarischen Krankenhauses. Im Winter 1932 wurde diese Abteilung sowie viele andere umfunktioniert, um Straßenkinder, die am Verhungern waren, aufzunehmen.
Auch diese Wörter kenne ich schon gut, und die Straßenkinder sehe ich mehr als nur einmal. Auf dem Markt, wo einer von ihnen, schmutzig, in zerrissener Kleidung, meiner Mutter den Geldbeutel aus den Händen reißt … Abends, auf dem Weg von meiner Großmutter, an einem riesigen Kessel, wo tagsüber Teer kocht … Der Kessel bleibt lange warm, und die Kinder – ein dunkler, schmutziger, abscheulicher Haufen – schlafen so nah an seinem Rand wie es nur geht. Zu Hause in meinem Bett denke ich angestrengt nach und kann es doch nicht verstehen, warum sie im Winter auf der Straße leben. Wo sind ihre Mütter? Alle meine Fragen werden kurz mit „Hunger“ beantwortet. Aber was Hunger ist, warum er da ist – das wird mir nicht erklärt.

Straßenkinder Russlands, Hunger 1931-1933
Straßenkinder Russlands, Hunger 1931-1933
Straßenkinder Russlands, Hunger 1931-1933
Straßenkinder Russlands, Hunger 1931-1933

Meine Mutter spricht oft über die Kinder, die auf ihrer Station untergebracht sind. Einige von ihnen kenne ich bereits namentlich. Heute Abend muss meine Mutter zum Dienst, und ich habe niemanden, der auf mich aufpassen kann. Ich freue mich, mit ihr gehen zu dürfen. Wir passieren schnell den Korridor und erreichen das Schwesternzimmer. Meine Mutter zieht einen Kittel an und sagt, dass ich zu den Kindern gehen kann. Ich traue mich aufgrund meiner Schüchternheit nicht und sie holt ein paar Kinder in das Zimmer. Vor mir stehen seltsame Kreaturen in langen Hemden, mit Stempeln darauf. Natürlich verstehe ich, dass sie Kinder sind, aber wie konnte meine Mutter sie sogar hübsch finden? Wie soll ich die überhaupt voneinander unterscheiden? Ich sehe nur rasierte, mit Schorf bedeckte Köpfe, eingefallene und blasse Gesichter mit wunden Lippen und unglaublich dünne Arme.
Ich weiß nicht, wer ein Junge und wer ein Mädchen ist. Auch ihre Hände sind mit Schorf bedeckt, manchmal heben sie die Hemden, die bis zum Boden hängen, und dann sehe ich riesige Bäuche, die sie kratzen. Die Bäuche werden von dünnen, wie Stöcke, Beinen gestützt.
Meine Mutter merkt wohl, wie geschockt ich bin, und bringt die Kinder schnell wieder weg.

Jetzt gibt es zu Hause endlose Geschichten über diese Kinder. Oft sind sie gar nicht für meine Ohren geeignet, aber wie können sie von einem Kind in der kleinen Wohnung ungehört bleiben? Wenn ich mich weigere Fischöl zu trinken, erzählt Mama mir, wie die Kinder ihr den Löffel mit Fischöl aus der Hand reißen, wie sie ihn gierig ablecken. Abends im Bett höre ich meine Mutter im anderen Zimmer erzählen, dass sie es heute geschafft habe, einen Jungen im letzten Moment aus der Schlinge zu holen. Er wurde von den Ältesten aufgehängt, weil er seine Brotration nicht hergeben wollte.
Ich weiß schon alles über Krätze, Läuse, blutigen Durchfall, dem Enddarm, der aus dem Rektum herausfällt.

 Diejenigen der Straßenkinder, die älter sind, fangen im Hof des Krankenhauses Spatzen, backen sie in der Asche des Feuers und essen sie samt Innereien und Knochen.
Es wird oft vom Tod gesprochen. Ihr ganzes Leben lang konnte meine Mutter einen kleinen Jungen nicht vergessen. Sein Sterben dauerte lange und war qualvoll. In der letzten Nacht saß sie die ganze Zeit neben ihm. Er fieberte und halluzinierte, rief immer wieder nach seiner Mutter und bat sie um Kartoffeln. In der Morgendämmerung beruhigte er sich plötzlich, öffnete weit die Augen, schaute meine Mutter besonnen an, lächelte und sagte: „Mama ist gekommen, sie hat mir Kartoffeln gebracht.“ Dann starb er …

 

Es geschah nicht im Krieg, nicht während einer Blockade, auch nicht in der Dürrezeit … Es geschah im Süden, dem reichsten Teil unseres Landes.

 

Noch viele, viele Jahre wird es dauern, bis ich begreifen werde, dass der Grund für den Hunger die Kollektivierung war – ein Wort, das ich als siebenjähriges Mädchen damals gar nicht verstanden hätte.

*Torgsin (russisch Торгсин) war eine Handelskette mit gleichnamiger konvertierbarer Währung in der Sowjetunion zwischen 1929 und 1936. Der Name war ein Akronym für die staatliche „Allunions-Gesellschaft zum Handel mit Ausländern“. Sie eröffnete 1929 unter Michael Sklar. Anders als die späteren Berjoska-Geschäfte waren die Torgsin-Läden für Sowjetbürger offen, vorausgesetzt diese besaßen Devisen, Silber, Gold oder Juwelen für ihren Einkauf. [Wikipedia]

/Slogan auf dem Beitragsbild in Deutsch: „Wir danken dem lieben Stalin für die glückliche Kindheit"/

 

 

Übersetzt nach den Erinnerungen von I. G. Hentosch:
„Не война, не блокада, не оккупация, даже не засуха... коллективизация“.

 

Quelle: https://bessmertnybarak.ru/article/ne_voyna_kollektivizatsiya/

 

Das Projekt „Bessmertny Barak“, von Andrej Schalajew ins Leben gerufen, wird von ihm und ein paar seiner freiwilligen HelferInnen ehrenamtlich geführt. Das Resultat dieser großartigen Arbeit: Fast 2 Millionen Menschen, deren Namen für uns und unsere Nachkommen schon festgehalten sind (und es kommen im Sekundentakt neue hinzu), zahlreiche Berichte über ihre Schicksale und Geschehnisse in der Vergangenheit.
Das besondere – jeder darf sich auf dem Portal anmelden und eigene Geschichten dazu fügen. So konnte auch ich von meinem Vater und Großvater erzählen:
https://bessmertnybarak.ru/user/1159/


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