Interview in „Kompass – Zeitung für Piraten“

Publiziert am von Ulrich Scharfenort (aka ulrics)

 

Alles gerät aus den Fugen

 

Ein Interview mit Rosa Ananitschev über ihr Buch „Andersrum“ und die Thematik Kindesmissbrauch.

 

CC BY-ND Kompass mit Rosa Ananitschev

 

Rosa Ananitschev (geborene Schütz) erblickte die Welt 1954 in einem deutschen Dorf in West-Sibirien (Gebiet Omsk). 1992 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland, lebt seit 1997 in gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft. Seit Ende 2010 veröffentlicht Rosa Ananitschev ihre Kurzgeschichten und Erinnerungen als eBook im Internet und in gedruckter Form.

 

Kompass:

Du hast ein Buch über Kindesmissbrauch geschrieben, was unterscheidet dieses Buch von anderen, die es sicherlich schon gibt?

 

Rosa Ananitschev:

Die Mischung macht es. Die Mischung aus Märchenhaftem, Science Fiction, Sozialem und Geschichte mit einem Schuss Autobiografie. Wobei das zentrale Thema der Erzählung für alle Zeiten immer brandaktuell bleibt.

 

Kompass:

Was inspirierte dich, das Buch „Andersrum“ zu schreiben?

 

Rosa Ananitschev:

Das Buch entstand nach und nach. Am Anfang war es eine märchenhafte Kurzgeschichte „Andersrum“ (in der Novelle der 1. Teil „Das Licht“), zu einem Bild geschrieben, auf dem ein Kind eine riesige, in der Erde verpflanzte Glühbirne bestaunt. Diese Geschichte wurde von Renate Zawrel (Sarturia Verlag) für eine Märchenanthologie ausgewählt. Die Arbeit an der Anthologie dauerte an. Inzwischen schrieb ich die Fortsetzung: „Die lachenden Gesichter“. Es war sozusagen eine Übungsarbeit – im Text sollten fünf Begriffe vorkommen. Erstaunlicherweise passten sie alle zu meiner eigenen Kindheit, riefen viele Assoziationen auf. Man muss diesen Teil wirklich lesen, um zu begreifen, wie das Leben der kleinen Lisa/Rosa war, und vielleicht wird man so manches auch gar nicht verstehen – aus heutiger Sicht …

Von da an ließ mich das Mädchen nicht mehr los. In Gedanken kehrte ich immer wieder zu der kleinen Lisa in die Vergangenheit zurück, stellte mir vor, wie sie ihr Leben meisterte. Mir wurde klar – sie braucht Hilfe, denn alleine würde sie es mit ihrer schweren Last nicht schaffen. So kam es dazu, dass ich die Geschichte weiter schrieb.

 

Kompass:

Das Schicksal der kleinen Lisa ist lange Zeit unklar. War das Buch von vornherein so geplant?

 

Rosa Ananitschev:

Wie schon erwähnt, war das Buch anfangs so, wie es im Endeffekt geworden ist, nicht geplant. Erst, als ich nach den zwei Teilen weiter schrieb, merkte ich, dass sie, obwohl abgeschlossen, wunderbar zu den Fortsetzungen passen. Der Grund von Lisas Traurigkeit war nur mir selbst bekannt, der Leser konnte bloß spekulieren, was mit dem Mädchen los war. Dabei sollte es auch im ersten Teil bleiben. Auch der Teil „Die lachenden Gesichter“ fügte sich bestens in das Ganze. Dieser Abschnitt zeigte ein wenig das Umfeld von Lisa, wie ihr Leben war, wie sie sich über so alltägliche, für heutige Kinder total langweilige Sachen, wie rote Gummistiefel freute. Es ist eine schöne, ruhige Geschichte, die beim Lesen ein Lächeln hervorzaubert. Aber die Ruhe ist trügerisch. Der Sturm kommt noch; ausgelöst durch eine ‚Kleinigkeit‘, ist er unvermeidbar und nimmt ein Ausmaß, dem das Kind alleine nicht gewachsen ist.

So passiert es ja auch im wahren Leben. Ein Wort, eine seltsame Erinnerung, ein scheinbar unbedeutender Vorfall, und alles gerät aus den Fugen – die tief vergrabenen Erlebnisse kommen in Bewegung und drängen wieder an die Oberfläche …

 

Kompass:

Die Geschichte spielt in den 50-er in einem deutschen Dorf irgendwo in Russland. Hat das eine Bedeutung?

 

Rosa Ananitschev:

Ich kenne die Meinung vieler meiner Landsleute, dass so etwas in Russland früher nicht möglich war – es gab keinen Kindesmissbrauch, schon gar nicht in deutschen Dörfern und in der Familie … und wenn doch, dann waren es nur Einzelfälle. Ich erlaube mir zu behaupten, dass es nicht nur Einzelfälle waren. Aber die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon, genauso wie von vielen anderen Verbrechen. Die Kinder litten stillschweigend, ohne jegliche Hilfe, ohne Hoffnung. Sie verdrängten, versuchten, mit der schrecklichen Last ein normales Leben zu führen. Wie viele schafften es nicht, wie viele scheiterten und zerbrachen, wie viele wurden selbst zu Verbrechern? Das weiß keiner.

 

Kompass:

Warum fürchtet sich Lisa nicht vor dem ‚schwarzen Mann‘?

 

Rosa Ananitschev:

Ja, das wundert so manch einen Leser. Aber es hat auch eine Erklärung. Lisa sieht Duh zum ersten Mal nachts, als sie aus einem Albtraum aufwacht. Eigentlich müsste sie noch mehr erschrecken beim Anblick der dunklen Gestalt, die an ihrem Bett sitzt. Aber das Mädchen sehnt sich so sehr nach Freude, Beachtung und Liebe, dass ihm das Äußere nicht so wichtig ist. Die Kleine hört die angenehme Stimme, einfühlsame Worte; sie spürt die Wärme und Anteilnahme, die die Gestalt aussendet. Sogar den angenehmen Geruch nimmt sie wahr! Sie fühlt, dass der schwarze Mann nicht böse ist, dass sie ihm vertrauen kann, dass er sich ihrem Kummer annehmen, ihr zuhören wird.

 

Kompass:

Warum kommt gerade Duh – ein fremdartiges Wesen – Lisa zur Hilfe?

 

Rosa Ananitschev:

Nun, gerade deswegen, weil kein Mensch in Lisas Nähe dazu imstande war, ihr zu helfen, sie zu verstehen. Keiner hätte ihr geglaubt, ihr zugehört … Es gab andere, dringendere Sorgen, es gab den alltäglichen Kampf, die Arbeit. Da waren Lisas Albträume ohne Bedeutung und ihre Traurigkeit, ihre depressiven Gedanken kümmerten die Erwachsenen nicht. Sie war ja noch/nur ein Kind …

 

Kompass:

Als Autorin willst du sicherlich eine Botschaft mit dem Buch vermitteln und erhoffst dir auch etwas davon. Was ist dies?

 

Rosa Ananitschev:

Mit „Andersrum“ will ich zum Ausdruck bringen, dass jedes Kind ein einzigartiger, wertvoller Schatz ist. Unser aller Schatz. Dass ein kleiner Mensch unter Gewalt und Ungerechtigkeiten mehr leidet, als ein großer. Für ein Kind ist alles größer – ein freudiges Ereignis ebenso wie Schmerzen, die man ihm zufügt. Die ersten Jahre seines Lebens prägen seine Zukunft – das wissen wir alle, denn wir waren alle einmal Kinder, nur haben es einige vergessen, darunter auch diejenigen, die als Erwachsene Kinder missbrauchen.

Ich weiß, kein Buch der Welt kann einen Kinderschänder zur Reue bringen – er wird weiter machen. Aber vielleicht können wir uns schützend vor ein Kind stellen und es nicht mehr zulassen! Vielleicht können wir lernen, ein Kind, das uns stumm etwas mitzuteilen versucht, zu verstehen, ihm endlich zuzuhören! Vielleicht können wir lernen, ihm zu vertrauen und zu glauben! Und dann wird das Kind auch uns vertrauen und das erzählen, was es niemandem zu erzählen wagt. Dann wird sich der ungeheuerliche Schmerz nicht in sein Unterbewusstsein herabsenken und das ganze Leben zur Hölle machen, denn dann können wir Erwachsene dem Kind helfen.

 

Kompass:

Wäre die Bezeichnung Märchenbuch treffend?

 

Rosa Ananitschev:

Nein, „Andersrum“ ist definitiv kein Märchen.

 

Kompass:

Für welche Altersgruppe ist das Buch gedacht und in welches Genre könnte man es einordnen?

 

Rosa Ananitschev:

Das Buch ist für mich selbst schwer einzuordnen. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, aber ich denke, es lässt sich einfach in keine der „Genre-Schubladen“ stecken. Es ist für Erwachsene gedacht, jedoch auch Jugendliche ab 12 – 14 Jahren können es lesen und ihre Schlüsse daraus ziehen.

 

Kompass:

Was kann jeder von uns gegen Kindesmissbrauch tun bzw. was ist deiner Ansicht nach am wichtigsten?

 

Rosa Ananitschev:

Ich bin mir sicher – viele, die zufällig dieses Interview lesen oder denen so ein Buch wie „Andersrum“ in die Hände fällt, tun es einfach ab, denken: „Das betrifft mich, meine Familie nicht!“ Natürlich vertraut man Partnern, mit denen man zusammenlebt, und so soll es ja auch sein. Aber das Vertrauen darf nicht blind sein, nicht auf Kosten eines kleinen Menschen, nicht wenn ein Kind alarmierende Signale aussendet, stumm um Hilfe ruft. Man hört sie nicht – diese Rufe, aber man kann sie fühlen … wenn man nicht die Augen und Ohren und das Herz verschließt. Ja, Vertrauen ist wichtig, aber auch dem eigenen Kind soll man Vertrauen schenken können.

Das kann jeder von uns – aufmerksam sein, auf die Kinder Acht geben, sei es eins aus der Nachbarschaft, aus dem Freundeskreis oder auch eins, das uns zufällig irgendwo begegnet.

 

Kompass:

Auch die Politik kann sicherlich mehr tun, als nur Placebo-Maßnahmen beschließen, wo wäre hier der richtige Ansatzpunkt aus deiner Sicht?

 

Rosa Ananitschev:

Es fällt mir schwer, Kindesmissbrauch aus politischer Sicht zu betrachten. Für mich ist das ein Verbrechen, das kein Gewissen kennt. Es sind Unmenschen, die leider viel zu gut das Tarnen verstehen. Sie haben sich überall eingenistet, in allen Bereichen – in der Kirche, in der Wirtschaft, in der Kunst und auch in der Politik. Wie bekämpft man sie mit Erfolg? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob dieser Kampf überhaupt irgendwann ein Ende haben wird.

Aber natürlich kann die Politik einiges für Missbrauchsopfer tun. Die Betroffenen brauchen professionelle Unterstützung und es müssten viel mehr Hilfestellen eingerichtet werden, die über ausreichend Fonds verfügen. An diesen Stellen darf nicht gespart werden! Eine Therapie ohne lange Wartezeiten muss möglich sein – in erster Linie für die Opfer. Und auf jeden Fall sollten die Strafen für Kindesmissbrauch härter werden. Aber einem guten, gewissenhaften Politiker fällt da viel mehr ein, und wenn alle unsere Politiker an einem Strang ziehen, dann kann der Kampf auch Erfolg bringen.


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