Was würde Eugen sagen?

Was würde mein Mann und nach unserer Trennung – mein lieber Freund zum Krieg in der Ukraine sagen? Als Russe hatte er einen viel engeren, persönlicheren Bezug zu Russland als ich. Allein schon aus dem Grund, weil dort seine Verwandte und ArbeitskollegInnen lebten. Dort sind seine Eltern und sein Bruder beerdigt.

Eins weiß ich – in Deutschland fühlte Eugen sich angenommen und zu Hause. Hier hatte er neue Freundschaften geschlossen, scheute es nie, auf Deutsch zu reden und Gespräche über verschiedene, manchmal schwierige, Themen zu führen, auch wenn er die Sprache nicht perfekt beherrschte. Schon wenige Monate nach unserer Ankunft hatte er einen Job gefunden, zwar nicht in seinem Beruf als Lehrer, sondern als einfacher Fabrikarbeiter, aber die Arbeit befriedigte ihn und gab ihm das Gefühl, ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein.

Eugen Ananitschev im Klassenzimmer in Omsk (Russland)
Eugen Ananitschev im Klassenzimmer, Omsk (Russland)

Auf das fremde Land war mein Mann von vornherein sehr neugierig. Er wollte mit eigenen Augen den „Kapitalismus“ sehen und war beeindruckt, wie hoch hier das Menschenleben, jeder einzelne Mensch und sein Wohl geachtet werden – im Vergleich zu seinen Erfahrungen im „Sozialismus“.

 

Ja, obwohl Eugen seit der Perestrojka-Zeit über die entsetzlichen Gräueltaten des kommunistischen Regimes in unserer Heimat informiert war, hatte er (ich ebenso) keine richtige Vorstellung vom Leben außer der Grenze.

 

Das, was er in Deutschland sah, war das Gegenteil von dem, was uns in Russland propagiert wurde. Die neu gewonnenen Erkenntnisse, die vielen Gedanken und Ideen, die ihn seitdem umtrieben, drängten ihn dazu, sie festzuhalten, sie aufzuschreiben. So sind rund 500 Seiten – in russischer Sprache – entstanden und es wären noch mehr, wenn der Tod ihn nicht am 12. April 2005 mitten aus dem Leben gerissen hätte …

 

Das Manuskript ist ein komplexes Schriftwerk und obwohl ich die Worddatei besitze, muss ich zugeben, dass ich den Gedankengängen nicht immer folgen kann, denn Eugen betrachtete die Welt aus einer eigenartigen, oft nur ihm verständlichen, Perspektive. Doch einige der Themen, mit denen er sich beschäftigte, sprechen uns alle an: 

  • Die Bestimmung der Menschheit;
  • Wofür leben wir und warum ist das Leben lebenswert;
  • Wofür sollten wir unsere Energien einsetzen und auf welche Ziele uns konzentrieren? Was hingegen ist unwichtig?
  • Was kann der Sinn persönlicher Existenz sein?

Aber am wichtigsten war für ihn, herauszufinden: Wie fördert man das Gute im Menschen, sodass es das Böse überwiegt?

 

Ich merke schon – es erübrigt sich, die Eingangsfrage zu beantworten, denn die Lösung liegt auf der Hand und ist glasklar. Ich bin auch überzeugt, er wäre entsetzt darüber, dass einige seiner Verwandten in Russland zu Putin halten und ihn bejubeln. Würde er mit ihnen diskutieren und versuchen zu erklären, was wirklich geschieht, würde er ihnen die Augen öffnen wollen? Ja, das würde er tun! Ich bezweifle jedoch, dass er damit Erfolg hätte. Sie würden ihm, wie auch mir, einreden wollen, er verstehe alles falsch und sogar – er sei ein Verräter seines Landes, das ihm ein glückliches Leben ermöglichte, ein Verräter seines Vaters, der einst dieses Land gegen den Faschismus verteidigte.

 

Stimmt, mein Schwiegervater war Veteran des Vaterländischen Krieges. Allerdings hatte er über seine Erlebnisse kaum gesprochen; er trank viel und starb infolge seines Alkoholismus, als er erst 53 Jahre alt war.

 

Einmal gestand er aber seinem Sohn etwas Abscheuliches, nämlich wie er und seine Kameraden sich auf dem Esstisch in einem von der sowjetischen Armee besetzten Haus in Deutschland erleichtert hatten (gelinde ausgedrückt). Ich war nicht dabei, als er ihm das gebeichtet hat und kann nicht sagen, ob er über diese Tat stolz war oder vielleicht doch sie im Nachhinein bereute. Aber Eugen schämte sich sehr für seinen Vater.

 

Meine Ehe mit Eugen hielt nicht für immer, dagegen aber bis zuletzt unsere enge Verbindung. Auch nach der Trennung konnte ich mit ihm über alles reden. Wie kein anderer, schaffte er es stets, mir mit seinen Worten Trost zu spenden und mich aufzubauen. Er war ein aufrichtiger, kluger, einfühlsamer Mann, der immer da war, wenn man ihn brauchte. Sein Lebensmotto „Denke zuerst an den Mitmenschen, danach – an dich selbst“ war nicht bloß eine leere Floskel. Nach diesem Prinzip hat er gelebt.

 

War er vielleicht zu gut für diese Welt und die Zeit einfach noch nicht reif für ihn? Musste er uns deshalb so früh verlassen? In einem bin ich mir sicher – er hätte noch viel Positives im Leben bewirken können.

 

Bei diesen Gedanken füllt sich mein Herz mit Wehmut. Er fehlt mir – dieser wunderbare Mensch. Er fehlt uns allen – allen, die ihn einmal kennen und schätzen gelernt haben.

Eugen Ananitschev (Евгений Владимирович Ананичев)
Eugen Ananitschev (Евгений Владимирович Ананичев)

(Mehr über Eugen Ananitschev im Buch „In der sibirischen Kälte“).

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