Warum das Schweigen brechen

Die letzten Tage haben mir wieder viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich habe einige Frauen mehr kennengelernt, mit denen mich ähnlich Schlimmes verbindet. Es ist zutiefst bedrückend, wie viele es sind. Das ganze Ausmaß begreift man erst, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt, und dann fühlt man sich einer schwarzen, bodenlosen Ohnmacht nahe.

Viele Frauen schweigen darüber, was sie als Kinder ertragen mussten, auch noch deswegen, weil sie das Geschehene tief im Unterbewusstsein begraben haben. Früher oder später wird es dennoch unweigerlich an die Oberfläche gelangen; mit diesem Wissen  dann umzugehen, damit weiter zu leben, scheint für sie anfangs fast unmöglich. Sie schweigen aus Scham, oder weil sie sogar sich selbst die Schuld geben; sie versuchen, alles wieder zu verdrängen ...

Ich erinnere mich, wie es mir erging, als die Ahnung in mir aufkeimte, als ich letztendlich begriff, was mir, als ich noch klein war, angetan wurde. Begriff und doch nicht begreifen konnte. Ich zweifelte an mir selbst, an meinem Verstand. So etwas dürfte doch nicht sein! Wie kann ein normaler Erwachsene einem kleinen, hilflosen Menschen solche Qualen bereiten – nicht nur physische, vielmehr seelische?

Ich wollte es nicht glauben, mein Verstand sträubte sich dagegen. Doch das kleine Mädchen in mir wusste es besser. Es flehte mich an, ihm zuzuhören, seinen Schmerz wahrzunehmen, es zu beschützen. Viel zu spät, dachte ich, viel zu spät! Ich dachte, das habe sowieso keinen Sinn mehr, keiner könne das, was geschah, rückgängig machen, nicht mal eine "Rechnung" könne ich dem Täter vorlegen, denn er ist nicht mehr am Leben. Ich beschloss, die Sache für mich zu behalten – keiner sollte davon erfahren. Zu groß war meine Scham ... Die Scham eines kleinen Mädchens ... Das verstand ich jedoch erst später! Und mit diesem Verstehen kam der Zorn – nein, so nicht. SO NICHT! Du bist erwachsen, du kannst nicht die kleine Rosa, die jetzt erst, nach fast fünfzig Jahren, sich zu Wort meldet, wieder zum Schweigen zwingen. Sie will gehört werden – vielleicht auch von der ganzen Welt, aber zuallererst von dir, denn nur du kannst dich ihrer annehmen, ihren Schmerz fühlen, ihre Scham verstehen und sie überwinden. Das Schweigen brechen!

Denn wenn wir schweigen, wie erfährt die Welt von den Gräueltaten? Wer bestraft die Verbrecher? Wer setzt sich für die Kinder ein – für diejenigen, die wir einmal waren, diejenigen, die sie jetzt sind und die noch geboren werden? Wenn wir schweigen, dann verraten wir die Kinder in uns, ihre Würde, ihre Tapferkeit, mit der sie es geschafft haben, das Unfassbare zu überstehen und zu überleben, dann lassen wir sie im Stich … Zum wiederholten Mal im Stich.

Nein, ich wollte nicht mehr schweigen, egal, wie groß der Widerstand und Unmut in meinem Umfeld auch sein sollte. Deswegen schrieb ich meine Geschichte auf und sie wird demnächst in meinem Buch "In der sibirischen Kälte" veröffentlicht - im Karina-Verlag.

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Kommentare: 2
  • #1

    Geli (Mittwoch, 05 August 2015 18:23)

    Liebe Rosa - schweigen ist sicherlich der falsche Weg, aber wie geht ein Kind damit um. Das ist so schwer. Als Erwachsene haben wir immer noch das Kind in uns, das Schutz braucht und mit den Erinnerungen kämpft.
    Ich kenne auch viele Frauen, denen so etwas wie dir passiert ist. Meine beste Freundin und viele andere auch. Es tut weh so etwas zu lesen, denn das Erlebte trägt die Betroffene ihr ganzes Leben mit sich herum. Sei lieb gegrüßt und gedrückt. Geli

  • #2

    Rosa (Donnerstag, 06 August 2015 14:05)

    Liebe Geli,

    Du hast recht - das Kind wird kaum imstande sein, sich gegen die Gewalt zu wehren, auch nicht mit Worten. Aber ich appeliere an die Erwachsenen. Ein Erwachsener kann schon dem inneren Kind Schutz bieten und über das Schweigen hinauswachsen. Die Erinnerungen sind schrecklich und es dauert seine Zeit, bis man sie verarbeitet hat. Erst dann kann eine andere Arbeit beginnen, eine befreiende. Erst dann kann das innere Kind wieder aufatmen und mit einem Lächeln sich an uns anlehnen. So fühle ich ...

    Ich danke Dir ganz herzlich fürs Lesen und Deine Worte,
    Rosa