Der letzte Augenblick

Schon als Kind machte ich mir viele Gedanken über Leben und Tod, über den Kosmos überhaupt. Ich war meistens in meiner eigenen inneren Welt unterwegs (das nennt man wohl „In sich gekehrt“), hatte meine besonderen Tag- und Nachtträume, in die ich flüchten konnte. Das Leben war für mich so etwas wie ein ‚Muss‘. Was blieb mir anderes übrig? Ich war da, ich musste leben. Wo und wie sollte ich mich auch davor verstecken, außer vielleicht in meinen Fantasien? Ich war sogar felsenfest davon überzeugt, dass ich unsterblich bin. Ich und Sterben? Nie im Leben! Wie soll das denn gehen, wenn ich selbst doch die ganze Welt bin? … Es war ein einzigartiges Gefühl, ein Gefühl, das ich nicht einmal beschreiben konnte, sogar jetzt nicht beschreiben kann. Es war wie ein unerschütterliches Wissen, ein Naturgesetz, vielleicht sogar speziell für mich geschaffen.

Gleichzeitig wusste ich, dass Menschen sterblich sind und was ‚tot sein‘ bedeutet – hatte ich doch bereits als Kind Tote gesehen – Menschen, die wiederum keine Menschen mehr waren (sonst würde man sie doch nicht in hölzernen Kisten ‚verpackt‘ unter der Erde begraben!). Nur hatte ich dieses ‚Tot sein‘ nicht in Verbindung mit mir bringen können. Ich werde nie tot sein – das war mir sonnenklar.

 

Mit dem Älterwerden hat sich diese Gewissheit verflüchtigt und das Gefühl der eigenen Unsterblichkeit ist nicht mehr abrufbar. (Stimmt eigentlich nicht ganz – sehr, sehr selten überkommt mich dieses bizarre Gefühl auch im erwachsenen Alter, hält aber nur für einen kurzen Moment an und ist dann auch schnell wieder weg). Eines Tages würde ich doch sterben – ja, ich hatte es begriffen und akzeptiert. Trotzdem machte der Tod mir keine Angst. Denn ein neues Verständnis der Lebensfrage stellte sich in mir ein. Seitdem begleitet mich dieses Wissen und keiner würde mich überzeugen können, dass es sich anders verhält. Natürlich heißt es nicht, dass ich sterben will. Ich möchte so lange leben, wie es nur möglich ist – dabei wünsche ich mir, wie jeder es von uns Menschen für sich wünscht, bis zum Schluss einigermaßen gesund zu bleiben.

 

Wie vermutlich jeder Mensch, mache ich mir ebenso gelegentlich Gedanken darum, wie es sein wird – der Übergang vom Leben in das Nichtsein, stelle mir vor, was ich dabei fühlen, was ich denken würde (wenn ich denn noch dazu imstande sein würde). Ich würde es nicht festhalten, nicht weiter erzählen können. Aber vielleicht wird es wirklich so sein, wie ich es mir vorstelle? So oder ähnlich? …

 

Ja, in meinen Träumen war ich schon gestorben, nicht nur einmal …

 

Das erste Mal – schon vor vielen Jahren:

Kurz vor meiner Ausfahrt (ich befinde mich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause) sehe ich plötzlich zwei gelbe Lichter auf mich zurasen. Ich weiß sofort – ich schaffe es nicht mehr, rechtzeitig zu bremsen oder auszuweichen – es sind meine letzten Sekunden. Ich spüre keine Angst, nur ein tiefes Bedauern breitet sich in meinem Inneren aus. Mit dieser eigenartigen Gefühls- und Gedankenmischung: „Ich will es so nicht, es ist viel zu früh, es tut mir leid, euch alle, meine Lieben, verlassen zu müssen“, fahre ich in den Tod hinein … und wache im selben Augenblick völlig desorientiert und fassungslos auf. Ich benötige einige Zeit, um mich zu sammeln und zur Wirklichkeit zurückzukehren.

 

Das zweite Mal, vielleicht ein Jahr später …

Mit bloßer Hand greife ich in eine offene Steckdose. Ich spüre, wie ein gewaltiger Stromstoß meinen Körper durchschüttelt und ihn lähmt. Mein letzter Gedanke – jetzt ist es aber wirklich vorbei, jetzt ist es kein Traum mehr, jetzt ist es wahr. Mein letztes Gefühl, mit dem ich aufwache, ist wieder dieses tiefe Bedauern.

 

Und es gab auch ein drittes Mal:

Ich sitze wieder im Auto – als Beifahrerin. Im Radio spielt Musik. Ein deutsches Lied. Wir – zwei Frauen – finden den Text (es hat etwas mit Autobahnen zu tun) sehr albern, aber passend zur Situation und singen lauthals mit. Wir fahren über eine Brücke und plötzlich reißt die Frau am Steuer das Lenkrad rechtsherum. Ich schreie: „Was machst du da!“ Aber da kracht der Wagen schon gegen das Geländer, durchbricht es und stürzt in den Fluss darunter. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Das kann jetzt kein Traum mehr sein, das ist endgültig. Ich werde aus dem Auto geschleudert, winde mich im verzweifelten Versuch, mich festzuhalten, erwische einige Grasbüschel am Brückenrand (Gras an der Brücke?) und … tauche aus diesem Albtraum wieder auf, unversehrt, in meinem Bett.

 

Diese eigenartigen Träume beschäftigen mich des Öfteren. Ich vermute, dass meine Empfindungen in der Traumwelt sich nicht viel von der Realität (meiner letzten Realität) unterscheiden werden. Oder kommt es doch ganz anders, als man denkt? … Ich werde es nie herausfinden, denn dieser Moment an der Grenze zum Tod wird mit meinem letzten Atemzug verschwinden. Ich werde nicht aufwachen und meine Gedanken aufschreiben können, so wie ich es jetzt tue. Ich werde sie mitnehmen – wohin auch immer.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Barbara Theisen (Mittwoch, 13 September 2017 18:59)

    Sehr bewegend, liebe Rosa!
    Ich wünsche Dir noch viele schöne und glückliche Jahre!
    Liebe Grüße!