Mit meiner Schwester Aneta, die in Berlin im Pflegeheim lebt, telefoniere ich jeden Tag, oft sogar mehrmals am Tag. Letzte Zeit ist das etwas schwieriger geworden. Ich weiß nicht, ob es an beginnender Demenz liegt oder vielleicht etwas anderem, aber sie hat es fast vollständig verlernt, mit dem Telefon umzugehen, und schafft es noch gerade so, ihren Sohn, mich oder die anderen Geschwister anzurufen.
Immer wieder beklagt sie sich über das „blöde Smartphone“, das, wie sie meint, nicht mehr richtig funktioniert oder gar kaputt ist. Wenn ich versuche, ihr beizubringen, wie dies und jenes geht, was sie machen soll, versteht sie es nicht oder macht es falsch. Sie hat im Zimmer auch ein Festnetztelefon, aber die Nummer darauf zu wählen, ist für sie, glaube ich, noch komplizierter. Erstens hat sie Probleme, die gewünschte Nummer aus ihrem Notizbuch herauszusuchen, zweitens – falls sie sich verdrückt, weiß sie nicht mehr weiter, nicht einmal, dass sie dann den Hörer auflegen, wieder aufnehmen und von vorn anfangen muss.
Ebenso ist es zwecklos, ihr etwas über WhatsApp zu senden, da sie die App nicht öffnen kann, um die Nachrichten abzurufen.
Früher hatte sie gern YouTube auf dem Handy genutzt, um ihre Lieblingsmusik zu hören – das klappt jetzt nicht mehr, und darüber ist sie sehr deprimiert.
Als wir Anfang Juli bei ihr zu Besuch waren, haben wir ihr alles mehrmals erklärt und vorgeführt, sie sollte es nur nachmachen. Das gelang ihr zunächst auch – solange wir da waren. Doch sobald wir gingen, vergaß sie das Wiedererlernte aufs Neue.
Natürlich merkt sie, dass etwas mit ihr nicht stimmt, und das beunruhigt sie. „Ich bin völlig verblödet, wie kann das sein?“, fragt sie mich oft verzweifelt am Telefon. Darauf finde ich keine Antwort, denn ich kann ihr nicht einfach sagen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach langsam, aber sicher, dement wird. Und dass es noch schlimmer werden kann.
Das Interessante: In anderen Dingen ist Aneta einigermaßen klar im Kopf. Sie kennt noch alle, hat keinerlei Probleme, sich im Heim und mit dem Tagesablauf zurechtzufinden. Allerdings spielt ihr das Kurzzeitgedächtnis oft Streiche. Dann weiß sie nicht mehr, wann welche Ereignisse stattgefunden haben, ob gestern oder vorgestern und ob überhaupt … Von früher, aus ihrer Vergangenheit, kann sie jedoch zahlreiche Geschichten erzählen.
Die für das Heim zuständige Psychiaterin hat noch immer nichts von sich hören lassen, obwohl Aneta sie gerade jetzt dringend gebraucht hätte.
Ansonsten kämpft sich meine Schwester tapfer durch den Alltag. Gelegentlich gibt es Auseinandersetzungen mit dem Pflegepersonal, aber im Großen und Ganzen sei es erträglich, die „Bösen“ seien etwas netter geworden, sogar Anna sei freundlicher, gesteht Aneta. Es freut mich, dass sich in dieser Hinsicht die Lage beruhigt hat. Wie ich befürchte, entstehen oft Missverständnisse deswegen, weil sie auch Wahrnehmungsprobleme hat und nicht immer in der Lage ist, alles richtig zu verstehen und einzuschätzen. Dazu möchte ich anmerken, dass meine Schwester kein einfacher Mensch ist. Man muss schon den richtigen Zugang zu ihr finden und vor allem viel Geduld haben.
Das Heim selbst hat uns übrigens positiv überrascht. Die Etagen sind hell und ansprechend gestaltet, mit Ecken und Nischen, wo man sich hinsetzen und unterhalten kann. Wir hatten uns vor schlechten Gerüchen gefürchtet – nach alten Menschen, ihren Ausdünstungen, mangelnder Hygiene. So etwas ist mir schon mal in einem anderen Heim aufgefallen. Doch in dieser Einrichtung war nichts dergleichen zu spüren. Mein Geruchssinn ist ja seit ein paar Jahren ziemlich gestört, aber auch Dagmar roch nichts Unangenehmes.
Mit ihrem Zimmer ist Aneta zufrieden, und sie fühlt sich darin wohl. An den zahlreichen gerahmten Fotografien, die fast die gesamte Wandfläche einnehmen – von Menschen, die ihr lieb und wichtig sind – erfreut sie sich immer wieder aufs Neue. „So habe ich sie alle zusammen und um mich herum.“
Die Depression kommt und geht, ist aber seltener so stark, dass sie in Panik ausartet. Wie gesagt, sie ist eine Kämpferin, trotz einiger zurückliegenden Suizidversuche. Nur die Antriebslosigkeit plagt sie momentan. Noch vor einem Jahr hatte sie gern gelesen, Rätsel gelöst und Bilder ausgemalt (das gar nicht mal so schlecht). Derzeit fehlt ihr jegliche Motivation dazu.
„Aus diesem Zimmer komme ich nie mehr heraus“, seufzt sie manchmal traurig, „es ist meine letzte Bleibe.“
So vergeht die Zeit … erschreckend schnell, und sie läuft unaufhaltsam weiter. Dennoch hoffe ich sehr, dass meine Schwester noch einige friedliche Jahre vor sich hat (ich ebenso), in denen sie in der Lage ist, mich anzurufen und mir zu erzählen, wie es ihr geht und was alles um sie herum geschieht. Auch wenn es manchmal ganz schön anstrengend mit ihr ist.
Beitragsbild: Die Aussicht von Anetas Zimmer auf den Garten.
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