Für Ida

Meine liebe Schwester, es tut mir unendlich leid, dass ich diese Zeilen erst jetzt schreibe und Du sie nicht mehr lesen kannst. Auch in meinem Buch habe ich Dich nur am Rande erwähnt, obwohl mich mit Dir doch so vieles verbindet. Und es tut mir leid, dass wir in den letzten Jahren Deines Lebens außer gelegentlichem Telefonieren keinen regelmäßigen Kontakt hatten. Wie so oft, wird es einem bewusst, was man alles versäumt hat, erst dann, wenn es zu spät ist.

Ich habe nicht viele Erinnerungen aus der Kindheit, die Dich direkt betreffen, aber die, die ich habe, sind kostbar. Dir habe ich die Liebe zum Sternenhimmel zu verdanken. Wenn ich abends auf der kleinen Bank am Tor saß, geselltest Du Dich manchmal zu mir und erzähltest, was Du schon über den Kosmos, über fremde Planeten und Sonnensysteme wusstest. Es war aufregend, sich andere intelligente Wesen oder böse Aliens vorzustellen. In solchen Momenten fiel von mir alle Last ab – ich fühlte mich wie beflügelt angesichts der unvorstellbaren ewigen Unendlichkeit. Du hast in mir auch das Interesse an Science-Fiction geweckt. Zwar hat es mit den Jahren nachgelassen, aber als Jugendliche las ich gern Romane von Isaac Asimov, Ray Bradbury, Stanislaw Lem, ebenso wie Bücher russischer Schriftsteller Alexandr Abramow und Iwan Jefremow … Es waren für mich aufregende, abenteuerreiche Welten, in denen alles möglich war, in denen Wunder geschehen konnten.

Ich habe nicht viele Erinnerungen aus der Kindheit, die Dich direkt betreffen, aber die, die ich habe, sind kostbar.

 

Dir habe ich die Liebe zum Sternenhimmel zu verdanken. Wenn ich abends auf der kleinen Bank am Tor saß, hattest Du Dich manchmal zu mir gesetzt und erzählt, was Du schon über den Kosmos, über fremde Planeten und Sonnensysteme wusstest. Es war aufregend, sich andere intelligente Wesen oder böse Aliens vorzustellen. In solchen Momenten fiel von mir alle Last ab – ich fühlte mich wie beflügelt angesichts der unvorstellbaren ewigen Unendlichkeit. Du hast in mir auch das Interesse an Science-Fiction-Literatur geweckt. Zwar hat es mit den Jahren nachgelassen, aber als Jugendliche las ich gern Romane von Isaac Asimov, Ray Bradbury, Stanislaw Lem, ebenso wie Bücher russischer Schriftsteller Alexandr Abramow und Iwan Jefremow. Es waren für mich fremde, abenteuerreiche Welten, in denen alles möglich war, in denen Wunder geschehen konnten.

 

Doch einmal habe ich Dich verraten. Daran kann ich mich noch lebhaft erinnern.

In der damaligen Zeit in Russland trugen Frauen und Mädchen im Winter als Kopfbedeckung warme Schals oder Tücher, seltener Mützen. Unsere Mutter band mir das Tuch immer sorgfältig um den Kopf – mit Einschlag, sodass keine Haare zum Vorschein kamen, nicht wegen der Kälte, sondern weil der Anständigkeit halber. So gehörte es sich für ein braves, gottesfürchtiges Mädchen. (Du weißt ja – viele Sachen, auch wenn sie harmlos waren und Spaß machten, galten für unsere Mutter als Sünde).

 

Eines kalten Tages waren Du und ich im Dorf unterwegs (ich war sechs oder sieben Jahre alt), natürlich dementsprechend gekleidet. Du hast mich immer wieder skeptisch von der Seite angeschaut, dann den Kopf geschüttelt, gelacht und gemeint, ich sehe aus wie eine alte Oma. Du hast mir das Tuch abgenommen und es auf eine andere Art und Weise um meinen Kopf gewickelt, einen kleinen Spiegel aus der Manteltasche herausgeholt und ihn mir vor die Nase gehalten. Mir gefiel, was ich da sah – ein hübsches Mädchen mit schick gebundenem Tuch, auf der offenen Stirn blonde, damals noch lockige, Haarsträhnchen kokett verteilt. Nur Mama gefiel es nicht, als ich wieder daheim ankam. Entsetzt über so viel Eigenwilligkeit, schimpfte sie mit mir und fragte, wie ich überhaupt auf so eine Idee gekommen sei. „Das war ich nicht, das war Ida!“. Ich weinte, gekränkt und enttäuscht von Mamas Ungerechtigkeit, aber auch gleichzeitig angesichts meiner Feigheit …

 

Wie jeder von uns sieben, bist Du früh von Zuhause und aus dem Dorf weggegangen, bist nach Kasachstan gezogen – in die Nähe von Aneta. Elf Jahre alt war ich damals. In Semipalatinsk hast Du den Mann kennengelernt, den Du auch, schon mit 18, geheiratet hast. Die Ehe hielt nur wenige Jahre, aber eine Tochter entstand daraus – Dein Sonnenschein, Dein Ein und Alles. Ein fröhliches Mädchen, das zur Lieblingsenkelin für unseren Vater wurde, und das, obwohl Du ja, ebenso wie Aneta, Papas ungeliebtes Kind warst. Warum er Euch nicht geliebt hat, kann ich nur damit erklären, dass ihr beide zur Welt gekommen und die ersten Jahre aufgewachsen seid, als er in der Arbeitsarmee war, also – ohne ihn. Ihr wart wie Fremde für ihn, Fremde, die er nicht leiden konnte. Ich weiß, diese Abneigung hat euch zwei das ganze Leben lang belastet. Auch untereinander habt ihr ständig rivalisiert. Immer wieder gab es Streit zwischen euch und zum Schluss brach der Kontakt ganz ab.

 

Auf Deiner Beerdigung gestand mir Aneta jedoch, sie sei Dir nicht mehr böse und dass sie gern die Zeit zurückdrehen würde. Mit Tränen in den Augen sagte sie, wenn sie könnte, würde sie mit Dir über alles reden und sich mit Dir versöhnen. Aber das sei jetzt nicht mehr möglich. 

 

Trotz der so angespannten Tochter-Vater Beziehung hast Du jeden Sommer Deinen Urlaub im Elternhaus verbracht. Deine und Anetas Besuche sind für mich immer die schönsten Tage des Jahres gewesen. 

 

Im Sommer 1967 - ich war dreizehn – hast Du mich vor einem großen Schock bewahrt. Ich weiß nicht, ob ich mich dafür schämen muss – jetzt noch, aber ich war in diesem Alter recht ahnungslos, was Sexualität betraf. Ja, ich wusste, was Mann und Frau machen, um Kinder zu zeugen, aber das war auch alles. Darum hat mich Deine Frage, ob ich schon meine Regel habe, ziemlich verwirrt. Du musstest mir erst einmal klarmachen, was damit gemeint ist. Nur wenige Tage später ist das, worüber Du mich aufgeklärt hast, auch schon eingetreten.  Was hätte ich bloß ohne Dich gemacht? Bei Mama Hilfe und Rat zu suchen, war völlig ausgeschlossen. Solche Themen waren Tabu und darüber mit meiner Mutter zu reden, war für mich schier unmöglich. Und im darauffolgenden Sommer hast Du für mich ein anderes Problem gelöst, indem Du mir zwei BHs mitbrachtest. Als ob Du wüstest, dass ich so etwas gerade dringend brauche.

Du bist für mich dagewesen, als ich mich zum ersten Mal ernsthaft verliebt und Liebeskummer hatte. Du hast den jungen Mann (der ja später zu meinem Ehemann wurde) gekannt, weil er Dein Mitschüler war, und mir viel von ihm erzählt und mich darin bestärkt, nicht aufzugeben und mein Glück selbst in die Hand zu nehmen.

 

Auch warst Du die Erste meiner Geschwister, die von meiner Homosexualität erfuhr. Du hast die Neuigkeit aufgenommen, als ob es die natürlichste Sache wäre (was ja auch stimmt!). An dem Tag im Frühjahr 1997 bin ich mit Dir nach Hannover gefahren, um unsere Cousine zu besuchen, und unterwegs im Auto habe ich es Dir gebeichtet. Es sind ein paar Stunden gewesen, die ich jetzt noch sehr wertschätze. Wir haben ABBA gehört und über alles Mögliche geredet: über Sex und Liebe, über Frauen und Männer und darüber, wie gut es doch sei, dass wir nicht mehr in Russland sind, sondern in einem anderen, freien Land – in unserer Urheimat.

 

Ich rechne Dir auch hoch an, dass Du (als eine der wenigen meiner Verwandten) keine Sekunde daran gezweifelt hast, dass das, was mir als Kind angetan wurde und was erst im Alter aus meinem Unterbewusstsein aufstieg, wahr ist. Egal, wie unvorstellbar es für Dich war – Du hast mir geglaubt, ohne Wenn und Aber …

 

Liebe Ida, ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich mich nicht vor dem offenen Sarg von Dir verabschieden wollte. Nein, das wollte ich nicht! Denn ich möchte Dich so in Erinnerung behalten, wie auf diesem schönen Foto, das 1993 in Hemer entstand …

 

Zum Schluss will ich noch sagen: Du hast auch über Deinen Tod hinaus noch etwas bewirkt, was ich als ein gutes Zeichen deute. Die Trauerfeier hat mich wieder den Kindern unserer ältesten Schwester ein Stück näher gebracht. Nein, es wird nie so sein, wie es einmal war, aber vielleicht wird doch eine Kommunikation möglich sein … auch mit Lilli … Ich von meiner Seite aus wäre dazu bereit. Denn ich weiß jetzt – es kommt der Tag, an dem es zu spät sein kann.

 

Oktober 2017

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Kommentare: 10
  • #1

    Enya Kummer (Sonntag, 15 Oktober 2017 18:35)

    Das ist so berührend und schön, diese Hommage an deine Schwester. Euch hat einiges verbunden und du trägst es in dir. Das ist das Wichtigste. Da braucht es kein Verzeihen.
    Lieben Gruß
    Enya

  • #2

    Barbara Theisen (Sonntag, 15 Oktober 2017 18:50)

    Traurig und doch hoffnungsvoll schön Deine Erinnerungen. Gut, das man Erinnerungen nicht nehmen kann.

  • #3

    Sven (Mittwoch, 19 Mai 2021 10:26)

    Sehr berührt hat mich dein Text an Ida. Wenn sie es lesen könnte, würde sie verständnisvoll nicken und dir sagen, dass sie dich immer geliebt hat und dass du dir keinen Kopf zu machen brauchst.

    Vielleicht schreibst du ja mal ein neues und umfangreicheres Buch und da solltest du dies Kapitel einbinden, denn es ist sehr wertvoll, geprägt von tiefer Erkenntnis und wahrer Empathie.

    Sprachlich gesehen bist du vergleichbar mit den Schriftstellern, die die Bestenlisten besetzen. Darüber hinaus berichtest du nicht nur sachlich, sondern auch so, dass Wärme aus deinen Worten fließt und alles ummantelt.

    Du bist eine Schriftstellerin, die ihren eigenen Stil gefunden hat und darin aufgeht, darin lebt und wirkt. In deiner Prosa ist nichts gekünstelt, ist nichts manieriert, ist alles aus der Seele gesprochen, ist alles nötig, ist kein Wort zuviel und kein Wort zuwenig.

    Ich wünsch dir ein langes Leben, damit du alles auf Papier bringen kannst, was dein Herz bewegt. Die Vergangenheit ist das Colorado der Dichter. Und der wahre Künstler verarbeitet das, was ihn belastet, ihn bedrängt, ihn zum Schreiben zwingt.

    In Demut, dein Sven <3

  • #4

    Rosa (Mittwoch, 19 Mai 2021)

    Lieber Sven, mein teurer und treuer Leser und Freund!
    Du findest immer so warme Worte für das, was ich schreibe, und ich spüre, wie aufrichtig sie sind, und das freut mich ungemein. Auch wenn ich keine große Schriftstellerin bin (dazu wäre noch ein langer Weg und viel Arbeit nötig und das schaffe ich nicht mehr), so ist es doch ein schönes Gefühl, zu wissen, dass jemand (und nicht nur eine Person!) meine Texte gern liest und sie so hoch schätzt. Und ja - ich verarbeite auf diese Weise vieles, was mich belastet, und das ist gut so, auch wenn es oft zu offen und persönlich ist. Aber so bin ich eben. �
    Herzlichen Dank!
    Rosa

  • #5

    Heather (Mittwoch, 19 Mai 2021 15:05)

    Liebe Rosa,
    Dein Brief an Deine vorausgegangene Schwester macht mir, obwohl ich mich bei so persönlichen, intimen Worten immer ein wenig wie eine Voyeurin fühle, einmal mehr deutlich, wie viele zwischenmenschliche Probleme sich auf unsere mangelnde Fähigkeit und/oder Bereitschaft zur Kommunikation zurückführen lassen. Wie oft kommt unsere Erkenntnis zu spät und Wichtiges bleibt ungesagt oder ungeklärt.

    Wir können, auch wenn manch einer das glauben mag, nicht hellsehen. Wir wissen nicht, was in unserem Gegenüber vorgeht, was sie/ihn bewegt. Oder wir selbst fühlen uns unverstanden, nur weil wir nie gelernt haben, uns mitzuteilen. Ohne Wertung, ohne Urteile oder Vorurteile. Mit Glück verfügen wir über Empathie und fühlen, das 'da etwas' ist, aber wenn wir uns nicht mitteilen, ist uns nicht zu helfen und wir selbst können ebenfalls nicht helfen.

    Bei Deiner Schwester, der Du hier so liebe Zeilen widmest, bin ich sicher, sie hatte diese Empathie! Eine, die Du mit ihr teilst.

    Von wem das Sprüchlein ist, weiß ich ebenso wenig, wie den genauen Wortlaut (mein Gedächtnis ist ein Fischernetz), aber er lautet sinngemäß: "Tue alles Gute, das du tun willst, sofort, denn du wirst den selben Weg nicht zurück kommen." Seelenfrieden, Aussöhnung und Trost sind zu große Wünsche, um sich ihnen sprachlos zu stellen, glaube ich. Alles, alles Gute auf Deinem Weg!!

    LG, Heather

  • #6

    Rosa (Donnerstag, 20 Mai 2021 18:01)

    Danke, liebe Heather!
    Das ist oft das Problem - der Mensch erkennt, dass er einem Nahestehenden Unrecht getan hat, aber der falsche Stolz (oder was auch immer es ist) hindert ihn daran, sich zu entschuldigen, mit dem anderen zu reden, sich mit ihm zu versöhnen. Doch wenn er das Unrecht gar nicht erkennt, den anderen verachtet, dann hilft auch das Entgegenkommen nicht, dann bleibt er stur und abgewandt. Aber versuchen sollte man es vielleicht - den ersten Schritt zu tun :-))
    Herzliche Grüße
    Rosa

  • #7

    Heather (Freitag, 21 Mai 2021 06:12)

    Kommunikation kann unter Lebenden nur Dialog bedeuten. Der/die 'Mutigere' wagt den ersten Schritt, zeigt Bereitschaft, aber der weitere Verlauf, da hast Du recht, liebe Rosa, liegt in BEIDER Händen - oder besser Ohren und Mündern�. Und es gibt Altlasten, die keine Hürden, sondern massive und unüberwindbare Wälle sind, an denen jeder Dialog scheitert (selbst kommunikationsgeschulten Politiker passiert das) und denen allein die Zeit zusetzen kann. Das anzunehmen, ist noch schwerer als eine Aussprache.
    LG,
    Heather

  • #8

    Rosa (Freitag, 21 Mai 2021 17:58)

    Ja, es kann kompliziert werden ... Meine Intuition sagt mir - es wird keine Aussprache geben, denn es müssen wirklich beide Parteien (oder auch Personen) dazu bereit sein.
    Herzliche Grüße
    Rosa

  • #9

    Monika-Maria Ehliah (Montag, 25 Oktober 2021 17:29)

    Liebe Rosa, mir fehlen die Worte.
    Ich habe nur Tränen.
    Tränen der Rührung und ... ich spüre so viel Liebe!
    Alles Gute und eine Herzensumarmung!
    M.M.

  • #10

    Rosa (Dienstag, 26 Oktober 2021 15:39)

    Liebe Monika-Maria,
    ich danke Dir vom Herzen.
    Rosa