(Wiederveröffentlichung, überarbeitet)
Als junges Mädchen bin ich ziemlich in mich gekehrt gewesen. Schon von klein auf grübelte ich über dies und jenes, machte mir viele Gedanken um das Universum und seine Geheimnisse, versuchte, das Sein zu ergründen und mir das Nichtsein vorzustellen. Ich träumte von einer besseren Welt, in der alles so war, wie ich es mir und für mich wünschte. Die Träumereien liefen letztlich unweigerlich in den tristen Alltag hinaus, immer und immer wieder.
Dann kam die Schulzeit, die es mir auf wunderbare Weise ermöglichte, der unerfreulichen Realität zu entfliehen, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit und in eine nicht reale Welt – die Welt der Bücher.
Auszug aus „In der sibirischen Kälte“

… In Heimtal [russisch: Rodnaja Dolina] gab es eine richtige Dorfbücherei, die ich natürlich so oft wie möglich besucht hatte. In dieser Zeit entdeckte ich für mich den Dichter Michail Lermontow. Ich war fasziniert von seinen Gedichten und besonders von dem Poem „Mcyri“ (Der Novize). Ich hätte damals so gern ein eigenes Exemplar von „Mcyri“ gehabt, um das Poem immer wieder lesen zu können, aber ich musste mich damit begnügen, die Verse in ein Heft abzuschreiben. Es klingt vermutlich lachhaft, aber so bescheiden verlief mein Leben nun mal vor vielen Jahren. Heute noch kann ich mir fast alle Strophen dieser poetischen Erzählung ins Gedächtnis rufen. Ich habe „Mcyri“ auch auf Deutsch gelesen, aber mit dem Original kann sich die Übersetzung kaum messen. Ich fühlte mich seelenverwandt mit Mcyri. Seine Qual war auch meine Qual, seine Sehnsucht auch die meine, denn wie er empfand ich mein Leben oft als Gefängnis …
Die vierte Strophe von „Mcyri“ (Original und Übersetzung)
Старик! я слышал много раз,
Что ты меня от смерти спас ‒
Зачем?.. Угрюм и одинок,
Грозой оторванный листок,
Я вырос в сумрачных стенах
Душой дитя, судьбой монах.
Я никому не мог сказать
Священных слов «отец» и «мать».
Конечно, ты хотел, старик,
Чтоб я в обители отвык
От этих сладостных имён, ‒
Напрасно: звук их был рождён
Со мной. И видел у других
Отчизну, дом, друзей, родных,
А у себя не находил
Не только милых душ ‒ могил!
Тогда, пустых не тратя слёз,
В душе я клятву произнёс:
Хотя на миг когда-нибудь
Мою пылающую грудь
Прижать с тоской к груди другой,
Хоть незнакомой, но родной.
Увы! теперь мечтанья те
Погибли в полной красоте,
И я как жил, в земле чужой
Умру рабом и сиротой.
Wie oft schon, Greis, hab ich gehört,
Dass du den Tod von mir gewehrt.
Wozu? ... Einsam, voll Bitternis,
Ein Blatt, das Sturm vom Stamme riß,
Wuchs ich in lüstern Mauern auf,
Ein Mönch schon durch des Schicksals Lauf.
War niemand, der mir Vater hieß,
Noch der mich Mutter sagen ließ.
Du freilich, Greis, du hast gewollt,
Dass ich im Stift vergessen sollt
Der heilgen Worte süßes Glück.
Umsonst: sie sind von mir ein Stück,
Mit mir geboren. Andre fand
Mit Eltern ich und Vaterland,
Mit Heim und Freund – für mich nur gab
Es nicht einmal ein teures Grab!
Da trug ich tränenlos mein Leid
Und schwur mir zu mit heilgem Eid:
Nur einen Augenblick, einmal
Preß ich die Brust in ihrer Qual
An eine andre Brust, verwandt
Und traut mir, wenn auch unbekannt.
O Traum, du warst so groß, so schön!
Es ist vorbei – nie wird's geschehn;
Und wie ich lebte, sterb ich: Knecht
Und Waise ohne Heimatrecht.
Übersetzer: Rainer Kirsch
Hier: Lermontows Poem Mcyri in voller Länge (Original und Übersetzung von Vera Jahnke). Ich muss allerdings anmerken, dass die Übersetzung von Rainer Kirsch mir besser gefällt.
***
Natürlich konnte ich dem Drang nicht widerstehen und las das Poem noch einmal. Wieder überkam mich dieselbe tiefe Sehnsucht, wie einst in meiner Teenagerzeit. Aber etwas anderes wäre auch kaum zu erwarten.
Ja, ich gestehe es gern: Meine Liebe zu „Mcyri“ ist und bleibt ungebrochen.
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