Am Dienstag, dem 6. Mai, hatten wir in unserem Haus einen Großeinsatz – mit Polizei, Notarzt und Feuerwehr. Nein, gebrannt hat es nicht, aber etwas Schlimmes ist geschehen.
Am besten erzähle ich der Reihe nach, so wie alles anfing.
Vor ein paar Wochen sah meine Frau unsere Nachbarin Frau B. im Treppenhaus sitzen, mit blutverschmierten Beinen, die sie notdürftig mit Taschentüchern umwickelt hatte. Dagmar fragte, was passiert sei und ob sie einen Arzt rufen sollte. „Nein, nein – alles gut“, war die Antwort, „bin nur hingefallen, ist nicht so schlimm wie es aussieht“. Das Angebot, sie bis zur Wohnung zu begleiten, lehnte sie ab, bat bloß darum, die Tasche hochzutragen und vor die Tür zu stellen, was meine Frau auch getan hat.
Am nächsten Tag entdeckten zwei Nachbarn Frau B. in ihrer offenen Garage neben dem Auto auf dem Boden sitzen. Wieder wehrte sie sich kategorisch gegen Hilfe.
Es vergingen ein paar Tage. Man sah und hörte sie nicht. Frau S., die Nachbarin von oben, fing an, sich Sorgen zu machen, versuchte, sie telefonisch zu erreichen. Da sie den Hörer nicht abnahm, hinterließ sie auf dem AB eine Nachricht mit der Bitte, sich zu melden. Keine Antwort. Man klingelte und klopfte an der Tür, an den Fenstern vom Garten aus, rief laut ihren Namen. Nichts. Frau S. verständigte die Polizei, die auch schnell kam, zusammen mit Krankenwagen und Feuerwehr. Es wurde wieder an der Tür gehämmert, gerufen: „Frau B., hier ist die Polizei, machen Sie bitte auf!“ Endlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und sie streckte den Kopf heraus; auf die Frage, ob es ihr gut gehe, ob sie Hilfe benötige, antwortete sie barsch: „Mir geht es gut. Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu reden, ich brauche nichts“.
Zugegeben, die Nachbarschaft war empört über dieses Verhalten. Wieder vergingen Tage. Frau B. gab weiterhin kein Lebenszeichen von sich. Man informierte den Sozialdienst und das Ordnungsamt. Zwei Beamtinnen erschienen, klopften abermals an der Tür (die Klingel war wohl abgestellt). Keine Reaktion. Unverrichteter Dinge gingen sie wieder, mit den Worten, da könne man nichts machen, wenn jemand keine Hilfe annehmen möchte, hat er das Recht dazu. Man könne bloß abwarten, bis die Frau sich zeigt … oder bis es zu stinken anfängt … Letzteres trat dann auch ein, obwohl zunächst nur leicht wahrnehmbar.
Ein Versuch am Montag, einen Einblick ins Fenster der Nachbarin von unserer Loggia aus zu bekommen, ergab Folgendes: In ihrem Wohnzimmer leuchtete in der Dunkelheit irgendein Monitor, sonst – keine Bewegung. Dasselbe Bild war am Dienstagspätnachmittag unverändert zu sehen. Ein paar besorgte Nachbarn versammelten sich bei uns in der Wohnung, und nach kurzer Beratung beschlossen wir, die Polizei einzuschalten. Das war um 21.30 Uhr. Die Polizei kam auch wieder ziemlich schnell und plötzlich wurde der Weg vor unserem Haus voll mit Blaulicht der Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen.
Die Feuerwehrleute versuchten erst, die Wohnungstür aufzubekommen, was ihnen wegen des Sicherheitsschlosses nicht gelang. Da sie sie nicht aufbrechen wollten, kletterten sie über unsere Loggia hinüber zur Loggia der Nachbarin und so konnten sie eine auf dem Boden liegende Gestalt ausmachen …
Es war schon etwas unheimlich, als ein Feuerwehrmann mit einer großen roten Axt durch unsere Wohnung marschierte und über das Geländer kletterte. Die Balkontür der Nachbarin wurde ausgehebelt und so gelangten die Männer in die Wohnung. Wie wir schon alle ahnten, war Frau B. tot, wahrscheinlich bereits seit einigen Tagen.
Dazu muss ich sagen, dass die Frau sehr zurückgezogen lebte, keinen Kontakt zu den anderen Hausbewohnern pflegte und nie einfach so jemandem die Tür öffnete. Warum sie schließlich auch die Klingel deaktivierte, bleibt ein Rätsel. Sie hatte wohl keine nahen Angehörigen, keine Familie. Aber sie war Parteimitglied der AfD – das wussten alle. Natürlich tut das nichts zur Sache – ein Mensch ist ein Mensch. Es erklärt nur die gewissen Spannungen zwischen ihr und den anderen hier im Haus, warum sie unbeliebt war und vielleicht auch, warum sie so sterben musste. Doch helfen wollte man ihr ja; hätte sie es zugelassen, wäre es vielleicht nicht so gekommen und sie wäre noch am Leben.
Erst nach Mitternacht kehrte im Hausflur Ruhe ein. Die Polizei hatte ihre Arbeit abgeschlossen, die Leiche dem Bestatter übergeben. Das Licht im Treppenhaus ging endgültig aus und es wurde still.
Dieser Vorfall hat Dagmar und mir, sowie bestimmt allen hier im Haus, erst einmal viel Stoff zum Nachdenken gegeben.
Kommentar schreiben