Außer Aneta habe ich nur noch zu meiner jüngsten Schwester Kontakt. Die zwei älteren (noch lebenden) Geschwister wollen von mir nichts mehr wissen. Aus Gründen. Was sie auch über mich denken und sich zurechtlegen – ich habe keinen Einfluss darauf, vor allem, da sie nicht im Geringsten an dem interessiert sind, was ich zu sagen habe. Also lasse ich sie gewähren.
Möglich, dass die Jüngste sich auch lieber von mir abwenden würde. Aber als Christin fühlt sie sich für mich verantwortlich und von Gott berufen, mir den richtigen Weg aufzuzeigen. Bei jedem Telefongespräch geht sie dieser Pflicht nach, auch wenn sie scheinbar nur beiläufig darüber erzählt, wie die höhere Macht ihr bei der einen oder anderen Sache geholfen hat. Vielleicht folge ich ja ihrem Vorbild, überlege es mir anders und beginne auch zu beten? Aber ich bin stur – war ich immer schon. Nein – Scherz, an meiner Sturheit liegt es ganz bestimmt nicht, sondern schlichtweg daran, dass ich an Gott nicht glaube. Jedes Bemühen, meine Gedanken in diese Richtung zu bewegen, ist zum Scheitern verurteilt. Doch das kann Erna nicht begreifen, egal, wie oft ich ihr meine Sicht der Dinge erkläre. Denn über sie kam die Erleuchtung doch auch vollkommen unerwartet … eines Tages. Warum sollte ihrer Schwester nicht dasselbe passieren … eines Tages? Und wenn sie dazu noch selbst einen Beitrag leisten könnte, würde ihr das sicherlich einen weiteren Pluspunkt auf dem Himmelszeugnis einbringen.
Mittlerweile regen mich ihre Bekehrungsversuche nicht mehr so sehr auf, wie früher. Sie meint es ja gut – aus ihrer Perspektive: Sie möchte nicht, dass ich nach dem Tod in der Hölle lande, auch wenn sie dabei ihr eigenes Interesse verfolgt (siehe Pluspunkt).
Nach dem Tod ihres Mannes im vergangenen Jahr ist Erna aus Dortmund in eine andere Stadt gezogen und lebt allein. Dort haben wir sie vor ein paar Wochen besucht. Noch geht es ihr einigermaßen gut, auch wenn sie mit vielen Wehwehchen zu kämpfen hat (der Allmächtige steht ihr selbstredend immer bei). Sollte sie etwas benötigen, kämen die Schwestern und Brüder der Baptistengemeinde ihr bereitwillig zur Hilfe, erzählte sie uns.
Nebenbei bemerkt: Wenn sie Fragen zu Diagnosen, Medikamenten oder sonstigem Unverständlichen hat, ruft sie mich an: „Rosa, kannst du mal bitte im Internet nachsehen …“. Selbst auf ihrem Smartphone ins große WWW zu gehen, traut sie sich nicht. Dort könnte sie ja allem möglichen Teufelszeug begegnen. Aus demselben Grund besitzt sie weder einen Fernseher noch ein Radio. Besser, kein Risiko einzugehen, und was mich betrifft, so hat der Fürst der Finsternis mich ohnehin längst im Griff. Nun, furchtlos wie ich bin, recherchiere ich für meine fromme Schwester jederzeit gern.
So haben wir den Nachmittag mit Kaffee und Kuchen verbracht (davor hat Erna erst einmal ein Dankesgebet vorgetragen), uns alte Familienfotos angesehen, selbstverständlich auch ein wenig zum Thema „Gott und Glauben“ diskutiert. Erna hat uns offenbart, dass möglicherweise bald viele Menschen von der Erde verschwinden werden. Nicht etwa wegen einer Alien-Entführung – nein, Jesus kommt zurück! Und er holt seine treuen Schäfchen ab. „Also, wenn ich plötzlich nicht mehr da bin, wundert euch nicht“, sagte sie mit der Gelassenheit einer Frau, die ihren Koffer schon gepackt hat. Verrückt, oder?
Als wir gingen, war meine Schwester traurig. „Ihr kommt doch bald wieder?“ „Wenn du noch da bist“, antwortete meine Frau mit einem Zwinkern in der Stimme, „und Jesus dich nicht abgeholt hat“, fügte ich hinzu – halb im Spaß, halb in der Hoffnung, dass Erna uns nicht einfach himmelwärts verlässt, noch bevor wir den nächsten Kuchen probiert haben.
Trotz alledem mag ich meine kleine Schwester. (Ich denke, dass eine Portion Humor mit etwas Ironie hier keineswegs unangemessen erscheint). Schließlich bleiben sie und Aneta für mich die einzigen mir zugewandten Geschwister. Und verrückt sind wir doch alle drei – jede auf ihre eigene Art und Weise.
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