Ich habe eine Sehstörung, die als Hornhautverkrümmung, Stabsichtigkeit oder Astigmatismus bezeichnet wird. Schon als Kind hatte ich meine Schwierigkeiten damit. Um in der Schule von der Tafel besser ablesen zu können, war ich immer gezwungen, in der ersten Reihe zu sitzen.
Meine Eltern hatten sich nie um eine Brille für mich gekümmert. Ob sie überhaupt wussten, dass ich schlecht sehen kann? Es waren andere Zeiten und – wie ich oft pflege zu sagen – in einer ganz anderen Welt. In einer Welt, in der es mehr ums Überleben ging und weniger um das Wohlbefinden eines einzelnen Menschen. So kam ich erst als Erwachsene zu einer Brille. Sie war nicht gut (ohne Gleitsicht, versteht sich) und ich hatte sie selten auf. Jedenfalls sieht man mich auf keinem der alten Fotos mit einer Brille auf der Nase. Es blieb in Russland auch bloß bei diesem einen Experiment.
Leider besitze ich diese alte Brille nicht mehr. Ich habe sie in irgendeiner Schublade liegen lassen, als ich mich 1997 von meinem Mann trennte und aus der gemeinsamen Wohnung auszog.
1992 verließ ich die alte Heimat. Was dann geschah, lässt sich unschwer erahnen. In Deutschland angekommen, benötigte ich nun dringender denn je eine Sehhilfe – eine richtige, die es mir ermöglichte, die Welt wieder klar und deutlich wahrzunehmen. Meine neue Heimat wollte ich in allen Regenbogenfarben sehen und nie mehr den Durchblick verlieren. 😊
Über den ersten Besuch beim Optiker schrieb ich sogar eine Kurzgeschichte, die in einer Anthologie gedruckt wurde. Es war noch im vergangenen Jahrhundert, und sie ist stilistisch wie grammatikalisch derart schlecht, dass eine gründliche Überarbeitung des Textes erforderlich wäre. Vielleicht nehme ich das noch eines Tages in Angriff und veröffentliche sie hier im Blog. (Die Herausgeberin der Anthologie hatte wohl alle Beiträge einfach so angenommen, wie sie eingereicht worden waren – ohne jegliches Korrektorat). Ich kann aber verraten, dass es in der Geschichte um Freundschaft geht – meine erste in Deutschland –, die übrigens bis heute gehalten hat.
Seit 1993 habe ich schon mindestens neun Brillen ausgetauscht, die Sonnenschutzbrillen nicht mitgezählt. Kaum zu glauben! Nun habe ich alle noch vorhandenen zusammengesucht, und hier sind sie – gut erhalten, aber nicht mehr passend für meine Augen. Was mache ich damit?
Eine Brille (mit großem blauen Gestell) kann ich allerdings nicht mehr finden, auch die erste ist mir abhandengekommen, man kann sie nur noch auf ein paar Fotos sehen; die elfte sitzt aktuell auf meiner Nase.

Textauszug (überarbeitet)
Jetzt konnte ich der Versuchung, wenigstens einen kleinen Ausschnitt aus der Kurzgeschichte zu überarbeiten, nicht widerstehen. Das ist daraus geworden.

… Liebe Angelika, ich vermute, du fragst dich schon die ganze Zeit, warum ich dir schreibe, anstatt dir all das einfach persönlich zu sagen. Natürlich könnte ich das. Doch heute hat sich eine besondere Stimmung in mir ausgebreitet, eine, die geradezu nach einem Stift verlangt. Du weißt doch, dass sich meine Gedanken auf dem Papier viel leichter ordnen lassen als in gesprochener Form. Außerdem ist dieser Brief dazu gedacht, dich zu überraschen.
Ist dir schon aufgefallen, wie wunderbar sich unsere Fähigkeiten ergänzen? Du kannst gut reden, ich schreibe – sagen wir, auch ganz passabel. Was ich manchmal schriftlich nicht zu fassen vermag, gelingt dir mühelos mündlich. Und umgekehrt: Wenn dir einmal die Worte fehlen, formuliere ich sie für dich schriftlich – schwarz auf weiß.
Findest du nicht auch, dass wir uns in unseren Begabungen spiegeln und zugleich bereichern?
In diesem Zusammenhang ist mir eine Idee gekommen, die mich nicht mehr loslässt: Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam ein Buch schreiben? Und bitte sag jetzt nicht, du hättest kein Talent zum Schreiben! Ich bin überzeugt, wir könnten ein außergewöhnliches Team bilden. Zwei Frauen unterschiedlicher Herkunft, zwei Stimmen, zwei Lebenswelten – ein gemeinsames Werk. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind grandios …
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