Ein Vierteljahrhundert

Jubiläum verpasst!

 

Ja, ich hätte feiern können – ein Vierteljahrhundert meines Lebens in Deutschland. Vor 25 Jahren, am 4. Dezember 1992, nahmen meine Familie und ich Abschied von dem frostigen Moskau, wo wir fast zwei Wochen an der Deutschen Botschaft in der Warteschlange verbrachten (um die Visa zu bekommen). Im Flugzeug der Lufthansa hoben wir wahrhaftig und endgültig ab – in Richtung Frankfurt am Main. Dort empfingen uns überraschend milde Temperaturen … und eine völlig andere Welt.

Drama Theater in Omsk, 2003
Drama Theater in Omsk, 2003

 

Es ist inzwischen so selbstverständlich – mein Leben in Sicherheit, im Wohlstand, in der Demokratie, und doch denke ich oft an frühere Zeiten, daran, was für ein Glück (im Unglück) ich hatte, in Russland eine Deutsche gewesen zu sein. So konnte ich dieses alptraumhafte Land verlassen und mit mir – auch meine Familie. Das Interessante ist – erst im Nachhinein empfinde ich es als Alptraum. Als ich noch mittendrin war, schien mein Leben nahezu normal. Ich hatte zu arbeiten, zu sorgen, ich hatte meine Kinder, meinen Mann, meine Freundinnen, ich hatte meinen Kummer und auch meine Freude und Glücksmomente. Da gab es wenig Zeit fürs Innehalten und Nachdenken, den sozialistischen Alltag mit dem kapitalistischen konnte ich ohnehin nicht vergleichen. Erst die letzten paar Jahre haben sich in meinem Gedächtnis als besonders schlimm eingebrannt. Alles brach auseinander, beziehungsweise in sich zusammen, und in diesem Chaos dominierte der blanke Überlebenswille … dazu kamen noch die entsetzlichen Verbrechen, die der Zusammenfall der Sowjetunion ans Licht förderte. Es war bloß die oberste Schicht im Ozean des unendlichen Grauens und doch zutiefst erschütternd. Ich glaube – den ganzen Wahnsinn des roten Terrors wird man nie aufdecken können, obwohl immer noch (und immer mehr!) Fakten um Fakten an die Öffentlichkeit gelangen …

 

Die ersten Wochen und Monate in Deutschland …

Neben den Formalitäten, dem Einleben und Einrichten in der neuen Heimat machte mir  auch noch arg meine Depression zu schaffen, die mich schon am Frankfurter Flughafen überfallen hatte. Warum? Warum war ich depressiv, obwohl doch endlich mein Traum in Erfüllung ging und alles gut lief? Warum meldete sich diese graue Hexe, wie ich sie nenne, erst dann, als ich schon alles hinter mir hatte? Klar, es gab dafür einen Auslöser, jedoch war es keiner der gravierenden Sorte. Warum hatte sie mich in den viel härteren Zeiten vor der Ausreise ‚verschont‘?

 

Wenn ich so darüber nachdenke, dann meine ich, eine Erklärung gefunden zu haben. 

In den zwei Jahren der Vorbereitungen war ich so sehr darauf konzentriert, den Kampf zu führen und zu gewinnen, dass die Depression sich nicht durchsetzen konnte. Zu stark war meine Abwehrkraft. Allein schon die drohende Einberufung meines ältesten Sohnes und das Lösen dieses Problems hatte mir einiges abverlangt …

Als es dann vorbei war, schlug sie sofort zu, in der Absicht, nun alles Versäumte nachzuholen.

 

Ich frage mich, was wäre, wenn Alexey doch in die Armee kam, was wäre, wenn wir den Absprung nicht geschafft hätten? Mit der Antwort darauf will ich mich jedoch heute nicht einmal beschäftigen. Das macht schon oft genug mein Unterbewusstsein – in meinen schlimmsten Alpträumen.

Links: Mein Jüngster, 15 Jahre alt, neben unserem ersten Auto (1994)

Rechts: Mikel, mein Enkelsohn (ebenso alt wie sein Papa damals), und die stolze Mama. Erster Platz beim Kick-Thai-Boxen (Battle of Westfalia), Februar 2017


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